Tötung auf Verlangen

Mit Urteil vom 03.07.2019, das hier abrufbar ist, hat der Bundesgerichtshof bekräftigt, dass das Unterlassen von ärztlichen Rettungsmaßnahmen dann keine strafbare Tötung auf Verlangen ist, wenn die Tatherrschaft beim Suizidenten liegt. Damit folgte es dem Urteil des LG Hamburg vom 08.11.2017.

Sachverhalt

Zwei in Wohngemeinschaft lebende Frauen (81 und 85 Jahre) nahmen die Medikamente Chloroquin und Diazepam, um sich selbst zu töten. Die Frauen litten unter mehreren zwar nicht lebensbedrohlichen, aber die Lebensqualität und die persönlichen Handlungs-möglichkeiten zunehmend einschränkenden Krankheiten (unter anderem Blut-hochdruck, beginnende Erblindung, Herzbeschwerden). In den letzten Monaten vor dem Tod nahmen ihre jeweiligen Beschwerden deutlich zu. Sie befürchteten, mit der Pflege der jeweils anderen physisch und psychisch überfordert zu sein. Die Möglichkeiten, in ein Pflegeheim zu ziehen oder eine häusliche Pflegekraft einzustellen, lehnten sie für sich nach Einholung von entsprechenden Informationen endgültig ab.

Sie nahmen Kontakt zu einem Sterbehilfeverein auf, dessen Vorsitzender Kontakt zum angeklagten Arzt herstellte. Der Angeklagte ist approbierter Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, arbeitete viele Jahre als Arzt in einem Krankenhaus und erstellt seit dem Jahr 2003 ausschließlich neurologische und psychiatrische Gutachten über die Urteils- und Einsichtsfähigkeit von Suizidwilligen sowie über die Wohlerwogenheit ihres Suizidbeihilfewunsches.

Bei einem persönlichen Treffen am 9. September 2012 schilderten sie dem Angeklagten ihre Biographien, ihre gesundheitlichen Beschwerden sowie die Gründe für ihre Suizidentschlüsse. Sie brachten mehrfach deutlich zum Ausdruck, dass sie fest zum Suizid entschlossen seien und sich ihre Entscheidung gut überlegt hätten. Hieran hatte der Angeklagte keinen Zweifel.

Für den Fall ihrer Handlungsunfähigkeit untersagten sie jegliche Rettungsmaßnahmen. Am Tag vor ihrem Suizid verfassten sie eine weitere Erklärung, in der sie – auch unter Verweis auf ihre Patientenverfügungen – jeder sie etwa noch lebend antreffenden Person im Falle ihrer Handlungsunfähigkeit Rettungsmaßnahmen verboten.

Nachdem sie unter Mithilfe des Angeklagten die für ihre Selbsttötung erforderlichen Medikamente zerkleinert und in Wasser aufgelöst hatten, nahmen sie die Lösung selbständig ein. Bereits kurze Zeit später schliefen sie ein.

Im Zeitpunkt des Bewusstseinsverlustes der Frauen bestand zwar noch eine „gewisse Chance“, ihr Leben zu erhalten. Die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Rettung war jedoch äußerst gering. Wenn überhaupt, hätten beide mit schwersten Hirnschäden überlebt. Dies war dem Angeklagten bewusst. Er rief nicht den Notarzt und unternahm auch sonst keine Rettungsbemühungen, um dem Willen der Frauen zu entsprechen. Für eine Willensänderung ergaben sich auch nach der Medikamenteneinnahme keine Anzeichen.

Begründung

Die Begründung lässt sich dem Urteil ab Seite 9 entnehmen. Der BGH gliedert sein Urteil so wie es auch in einer Klausur zu erwarten wäre. Zunächst grenzt er die strafbare Selbsttötung auf Verlangen von der straflosen Beihilfe zum Suizid ab. Maßgeblich ist demnach, wer das zum Tod führende Geschehen beherrscht. Begibt sich der Sterbewillige in die Hand eines Dritten und nimmt duldend von ihm den Tod entgegen, dann hat dieser die Tatherrschaft über das Geschehen. Nimmt dagegen der Sterbewillige selbst die todbringende Handlung vor und behält er dabei die freie Entscheidung über sein Schicksal, tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Letzteres war im vorliegenden Fall zutreffend.

Nach kurzer Subsumtion wird darauf eingegangen, dass der Angeklagte sich auch nicht in mittelbarer Täterschaft strafbar gemacht hat, da die Tat freiverantwortlich herbeigeführt wurde. Freiverantwortlich ist ein Selbsttötungsentschluss, wenn das Opfer die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit für seine Entscheidung besitzt und Mangelfreiheit des Suizidwillens sowie innere Festigkeit des Entschlusses gegeben sind.

Ferner wird darauf eingegangen, ob der Angeklagte sich nicht wegen eines versuchten Tötungsdeliktes durch Unterlassen strafbar gemacht hat, weil er eine Garantenstellung gehabt haben könnte.

Im vorliegenden Fall war der Angeklagte nicht kraft Übernahme der ärztlichen Behandlung für das Leben der beiden Frauen verantwortlich, denn es bestand zwischen den Beteiligten kein Arzt-Patientinnen-Verhältnis. Mit den Suizidentinnen vereinbart war lediglich, sie bei ihrem Sterben zu begleiten; eine Beschützergarantenstellung für ihr Leben oblag ihm daher nicht. Der Angeklagte hatte auch keine Garantenstellung aus vorangegangenem gefährlichen Tun (Ingerenz). Das Überlassen der Medikamente kam als Anknüpfungspunkt in diesem Fall (!) nicht in Betracht, da das Landgericht nicht festzustellen vermochte, dass der Angeklagte die Medikamente den Frauen zur Verfügung gestellt hat, er auf diese Weise mithin eine Gefahrenquelle für beider Leben geschaffen hat. Die Erstellung der Gutachten über die aus psychiatrischer Sicht bestehende Einsichts- und Urteilsfähigkeit der beiden Frauen führt nicht zur Begründung einer Garantenstellung aus vorangegangenem gefährlichem Tun.

Schließlich führt der Bundesgerichtshof aus, dass auch ein Fall unterlassener Hilfeleistung nicht einschlägig ist. Zwar sein jeder Suizidversuch immer auch ein Unglücksfall im Sinne des § 323c Abs.1 StGB. Dem Angeklagten war aber nicht zuzumuten, nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Frauen Rettungsmaßnahmen zu ergreifen, weil er sich in einer für ihn unauflöslichen Konfliktsituation zwischen der aus § 323c Abs. 1 StGB erwachsenden allgemeinen Hilfspflicht und der Pflicht, das im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verbürgte Selbstbestimmungsrecht der Frauen zu achten, befand. Im Hinblick auf ihren geplanten Suizid hatten die Frauen knapp eine Woche zuvor eine schriftliche Erklärung verfasst, in der sie ausdrücklich und unmissverständlich jegliche Rettungsmaßnahmen nach Eintritt ihrer Handlungsunfähigkeit untersagten. Diese Verfügung zielte auf die nach Einnahme der todbringenden Medikamente eingetretene Situation und war für den Angeklagten verbindlich (§ 1901a Abs. 1 BGB).

Klausurhinweis

Im Rahmen von Klausuren, die den § 216 StGB betreffen, ist es besonders wichtig, dass alle einschlägigen Straftatbestände abgeprüft werden. Die Prüfung kann sich also nicht mit einer Verneinung des § 216 StGB nach Abgrenzung und Subsumtion begnügen, sondern muss auch auf den Totschlag durch Unterlassen und die unterlassene Hilfeleistung eingehen. Beim Totschlag durch Unterlassen liegt der Schwerpunkt in der Frage nach der Garantenstellung und beim der unterlassenen Hilfeleistung liegt der Schwerpunkt in der Frage nach der Zumutbarkeit.

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